Das Flüstern der Mädchenkiefer
- Anja San
- 13. Aug.
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 7 Tagen

Hoch oben, wo der Nebel zwischen den Bergen Japans wie ein wandernder Geist schwebt, lebte ein alter Gärtner.
Sein Haus war einfach, sein Herz ruhig, und jeden Tag ging er denselben schmalen Pfad hinauf zu einer kleinen Mädchenkiefer, die er vor vielen Jahren als kaum sichtbaren Sämling gefunden hatte.
Damals war sie schwach, stand verloren da, fast vom Regen ertränkt und vom Wind gebrochen, dass ihre Zweige sich dem Boden zuneigten. Doch er hob sie mit Händen voll Wärme aus dem kalten Schlamm, pflanzte ihre Wurzeln in gute Erde, die nach Leben roch. Ohne ein einziges Wort schwor er, in der Sprache der Stille, über sie zu wachen, bis sie wieder dem Himmel entgegenwachsen würde.
Er sprach nicht viel, aber er lauschte:
Dem Wispern des Windes in den Nadeln,
dem silbernen Tropfen des Taus am Morgen,
dem sanften Knacken des Holzes, das Jahr für Jahr stärker wurde.
Die Menschen im Dorf wunderten sich: „Warum dauert es so lange, bis sie schön wird?“
Der Gärtner lächelte nur.
„Weil wahre Schönheit Zeit braucht, um Wurzeln zu schlagen.“
Er schnitt nur, wenn es sein musste.
Er gab Wasser, wenn der Durst groß war.
Er schützte sie vor Sturm, doch ließ dem Wind genug Raum, damit sie stark werden konnte.
Er drängte nicht, er wartete.
Jahre vergingen. Die Kiefer wuchs langsam, doch sie wuchs mit Würde.
Ihre Nadeln leuchteten im Morgengrau, ihr Stamm trug die Spuren von Wind, Regen und Sonne. Jede Narbe eine Geschichte, jeder Ast ein Gedicht.
Eines Tages kam ein Kind zu ihm und fragte: „Alter Mann, was ist das Geheimnis dieser Kiefer?“
Der Gärtner legte die Hand an den Stamm, als würde er eine alte Freundin begrüßen. Er schwieg einen Moment, ließ den Wind zwischen den Nadeln sprechen, und dann sagte er:
„Achtsamkeit, Geduld und der Respekt, dass sie ein Wesen ist, kein Objekt.
Ich diene ihr, nicht sie mir.
Denn wer Bäume erzieht, muss lernen, sich selbst zu zähmen.
Und wer lange genug zuhört, hört im Flüstern der Kiefer vielleicht das eigene Herz.“

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